Wirtschaftsstandort

Arbeitskräfteknappheit in Hamburg: Wie lösen wir das Problem?

19. November 2024
Auch die Hansestadt muss handeln, ist HWWI-Direktor Michael Berlemann überzeugt. Wir sprachen mit dem Wirtschaftsexperten über Lösungsansätze

Rettet uns Kollege Roboter? Zumindest bieten Automatisierung, Digitalisierung und künstliche Intelligenz (KI) das größte Potenzial zur Minderung der Arbeitskräfteknappheit in Deutschland, ist Professor Michael Berlemann, wissenschaftlicher Direktor des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts (HWWI), überzeugt. Denn trotz schwacher wirtschaftlicher Entwicklung fehlen immer noch mehr als 530.000 qualifizierte Arbeitskräfte, so eine aktuelle Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Und das IW prognostiziert: 2024 gehen der deutschen Wirtschaft Produktionskapazitäten im Wert von rund 49 Milliarden Euro verloren, weil passende Arbeitnehmer:innen fehlen.

Hamburg News: Professor Berlemann, welche Faktoren beeinflussen die aktuelle Konjunkturlage in Deutschland?

Professor Michael Berlemann: Die Lage ist geprägt von der Weltkonjunktur, dem Krieg in der Ukraine mit Auswirkungen auf die Gaslieferungen, dem Nahostkonflikt mit Auswirkungen auf die Ölpreise, von Zinsen sowie von der Konsumlaune der Bevölkerung. All das trägt zur Konjunkturlage bei. Und ein langfristig wesentlicher Faktor für die Konjunkturlage in Deutschland ist die Arbeitskräfteknappheit.

Professor Michael Berlemann, wissenschaftlicher Direktor des HWWI im Gespräch
Professor Michael Berlemann, wissenschaftlicher Direktor des HWWI

Hamburg News: In dem Zusammenhang werden vor allem Baby-Boomer genannt, also die geburtenstarken Jahrgänge von Mitte der 1950er- bis Ende der 1960er-Jahre ...

Berlemann: Richtig. Der Abgang der Baby-Boomer hat bereits begonnen und wird sich im Laufe der nächsten 15 Jahre verschärfen – und das in erheblichem Maße. Deutschland wird im hohen einstelligen Millionenbereich Arbeitskräfte verlieren, wenn wir so weitermachen wie bisher. In Hamburg ist der Effekt nicht ganz so ausgeprägt, Hamburg hat eine relativ junge Bevölkerung und eine vergleichsweise hohe Zuwanderung. Der generelle Effekt ist allerdings derselbe und das bedeutet, wir müssen auch in Hamburg unsere Hausarbeiten machen.

Hamburg News: Das HWWI hat da schon vorgearbeitet und die Arbeitskräfteknappheit in Hamburg analysiert. Was haben Sie herausgefunden? 

Berlemann: Wir haben das Zeitfenster bis 2045 analysiert und drei Qualifikationslevel untersucht: Ohne Berufsabschluss, mit Berufsabschluss und mit einem akademischen Abschluss. Kurz gesagt: Der größte Mangel herrscht in der Gruppe derjenigen mit einem qualifizierten Berufsabschluss. 

Hamburg News: Und die lange Version? 

Berlemann: Arbeitskräfte mit niedriger Berufsqualifikation stehen uns eher im Übermaß zur Verfügung. Ein Grund liegt in der Zuwanderung von Menschen, die entweder keine qualifizierte Berufsqualifikation mitbringen oder wegen der Anerkennungsproblematik ihrer Qualifikation nur als Geringqualifizierte arbeiten.

Die Gruppe der Hochqualifizierten läuft absehbar ins Defizit, aber nicht so schnell. Hamburg ist für gutverdienende Akademiker:innen attraktiv. Zwar sind die Lebenshaltungskosten vergleichsweise hoch, aber Hamburg bietet eine hohe Lebensqualität, eine gute Kinderbetreuung, die es Eltern ermöglicht erwerbstätig zu sein und die Verkehrsinfrastruktur trägt ebenfalls zur Attraktivität des Standorts bei. Das gilt für den Zuzug innerhalb Deutschlands. International ist der Blick etwas skeptischer, besonders was die deutsche Bürokratie und den Grad der Digitalisierung betrifft. Und mit Englisch kommt man zwar in den großen Konzernen ganz gut durch, doch im Vergleich mit skandinavischen Ländern, in denen die englische Sprache quasi selbstverständlich ist, verliert Hamburg.

Hamburg News: In dem Zusammenhang werden vor allem Baby-Boomer genannt, also die geburtenstarken Jahrgänge von Mitte der 1950er bis Ende der 1960er Jahre…  Berlemann: Richtig. Der Abgang der Baby-Boomer hat bereits begonnen und wird sich im Laufe der nächsten 15 Jahre verschärfen – und das in erheblichem Maße. Deutschland wird im hohen einstelligen Millionenbereich Arbeitskräfte verlieren, wenn wir so weitermachen wie bisher. In Hamburg ist der Effekt nicht ganz so ausgeprägt, Hamburg hat eine relativ junge Bevölkerung und eine vergleichsweise hohe Zuwanderung. Der generelle Effekt ist allerdings derselbe und das bedeutet, wir müssen auch in Hamburg unsere Hausarbeiten machen.   Hamburg News: Das HWWI hat da schon vorgearbeitet und die Arbeitskräfteknappheit in Hamburg analysiert. Was haben Sie herausgefunden?   Berlemann: Wir haben das Zeitfenster bis 2045 analysiert und drei Qualifikations-Level untersucht: Ohne Berufsabschluss, mit Berufsabschluss und mit einem akademischen Abschluss. Kurz gesagt: Der größte Mangel herrscht in der Gruppe derjenigen mit einem qualifizierten Berufsabschluss.   Hamburg News: Und die lange Version?  Berlemann: Arbeitskräfte mit niedriger Berufsqualifikation stehen uns eher im Übermaß zur Verfügung. Ein Grund liegt in der Zuwanderung von Menschen, die entweder keine qualifizierte Berufsqualifikation mitbringen oder wegen der Anerkennungsproblematik ihrer Qualifikation nur als Geringqualifizierte arbeiten.  Die Gruppe der Hochqualifizierten läuft absehbar ins Defizit, aber nicht so schnell. Hamburg ist für gutverdienende Akademiker:innen attraktiv. Zwar sind die Lebenshaltungskosten vergleichsweise hoch, aber Hamburg bietet eine hohe Lebensqualität, eine gute Kinderbetreuung, die es Eltern ermöglicht erwerbstätig zu sein und die Verkehrsinfrastruktur trägt ebenfalls zur Attraktivität des Standorts bei. Das gilt für den Zuzug innerhalb Deutschlands. International ist der Blick etwas skeptischer, besonders was die deutsche Bürokratie und den Grad der Digitalisierung betrifft. Und mit Englisch kommt man zwar in den großen Konzernen ganz gut durch, doch im Vergleich mit skandinavischen Ländern, in denen die englische Sprache quasi selbstverständlich ist, verliert Hamburg.

Hamburg News: Was ist also zu tun, um der Arbeitskräfteknappheit zu begegnen? 

Berlemann: Im Umgang mit der Arbeitskräfteknappheit gibt es nicht die eine, erfolgsversprechende Strategie. Wir müssen an verschiedenen Punkten ansetzen. Eine Möglichkeit: Das vorhandene Arbeitskräftepotenzial besser ausschöpfen. Die Beschäftigungsquote junger Mütter liegt immer noch deutlich unter der junger Väter. Helfen könnten bessere Rahmenbedingungen – von längeren Kita-Öffnungszeiten über eine Verbesserung der Dateninfrastruktur mit Blick auf Home-Office-Möglichkeiten bis zu noch flexibleren Arbeitszeiten seitens der Unternehmen. Doch wir sprechen hier von einem begrenzten Potenzial.

Hamburg News: Welches Arbeitskräftepotenzial erscheint Ihnen vielversprechender? 

Berlemann: Das der länger im Beruf Stehenden. Wir verlieren viel zu viele Menschen durch Frühverrentung. Ab einem Alter von Mitte, Ende 50 ist die Beschäftigtenquote rückläufig. An dieser Schraube zu drehen, lohnt sich, denn es betrifft die kräftig besetzten Kohorten. Wenn wir die Menschen ein, zwei Jahre länger in Arbeit halten können, erzielen wir einen spürbaren Effekt. 

Hamburg News: Was schlagen Sie vor? 

Berlemann: Erfolgsversprechende Ansätze wären etwa die Abschaffung des Vorruhestands und die Einführung (finanzieller) Anreize für längeres Arbeiten. Von Seiten der Wirtschaft wäre die Schaffung von Positionen speziell für ältere Arbeitnehmer:innen sinnvoll, in denen diese ihre wertvollen Erfahrungen einbringen können. Aber ein wirklicher Hebel wäre die Anhebung des gesetzlichen Rentenalters in Richtung 70 Jahre. Letztlich halte ich diesen Schritt für unausweichlich. 

Hamburg News: Viele Expert:innen setzten auf Zuwanderung als Lösungsansatz. Was meinen Sie?

Berlemann: Wir gehen bereits von einer jährlichen Netto-Zuwanderung nach Deutschland von 300.000 Menschen aus. Noch mehr Zuwanderung wäre nur eine Lösung für den Arbeitsmarkt, wenn gezielt die Menschen kämen, die benötigt werden. Doch auch das schließt nicht die Lücke, sondern mindert sie bestenfalls. 

Hamburg News: Wie lautet also Ihre Empfehlung?

Professor Michael Berlemann, wissenschaftlicher Direktor des HWWI im Gespräch

Berlemann: Die größte Chance ist der Einsatz von Automatisierung, Digitalisierung und KI. Das ist die Strategie, in die wir vor allem Hoffnungen setzen. Ziel wäre es, so viele Tätigkeiten wie möglich zu automatisieren und damit Arbeitskräfte zu unterstützen. Das würde zu mehr Attraktivität im Arbeitsmarkt führen, weil repetitive Tätigkeiten wegfallen. Früher herrschte angesichts von mehr Technik im Arbeitsumfeld die Angst vor Jobverlust. Nun brauchen wir die Technik, um fehlende Arbeitskräfte zu ersetzen. 

Hamburg News: Doch die Angst vor Jobverlust, gerade angesichts der rasanten Entwicklung generativer KI, ist noch vorhanden, oder?

Berlemann: Wir müssen den Menschen die Angst nehmen, nicht mehr gebraucht zu werden und dafür die Chancen in den Fokus rücken, attraktivere und besser bezahlte Jobs zu bekommen. Denn auf absehbare Zeit werden Arbeitgeber:innen um den aktuellen Arbeitskräftebestand kämpfen müssen – auch mit besseren Löhnen. Das heißt, Arbeitnehmer:innen können chancenorientiert denken, auch noch mit Mitte 50! Und ganz allgemein: KI als Bedrohung zu sehen, ist schon deshalb nicht zielführend, weil die Technologie da ist und nicht wieder verschwinden wird. Wir müssen also die Situation annehmen. Das erfordert sicher eine gewisse geistige und eventuell auch räumliche Flexibilität. Aber ich bin von den Chancen der technologischen Entwicklung überzeugt. 

Hamburg News: Spricht da der Optimist aus Ihnen? 

Berlemann: Vielleicht. Ich bin Optimist. Aber ich bin auch Volkswirt, der die Situation aus der Vogelperspektive betrachtet und die Fakten vorlegt. 

Das Gespräch führte Yvonne Scheller.
sb/kk

Quellen und weitere Informationen

Hamburgische WeltWirtschaftsInstitut

Das Hamburgische WeltWirtschaftsInstitut (HWWI) ist ein unabhängiges, privatwirtschaftlich finanziertes wirtschaftswissenschaftliches Forschungsinstitut. Neben dem Hauptsitz in Hamburg ist das HWWI mit einer Niederlassung in Bremen präsent. Es ist als gemeinnützige GmbH organisiert, einziger Gesellschafter ist die Handelskammer Hamburg. Das HWWI arbeitet eng mit der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg (HSU) zusammen. Im Rahmen dieser Zusammenarbeit übernimmt die HSU unter anderem die wissenschaftliche Direktion des HWWI – in Form von Professor Michael Berlemann, der als Wissenschaftlicher Direktor zusammen mit Dr. Dirck Süß das HWWI leitet.

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